Ich habe gerade das Buch Laufen. Essen. Schlafen. von Christine Thürmer (geb. in meiner Heimatstadt Forchheim) gelesen und es gehen mir widersprüchliche Gedanken durch den Kopf… Für diejenigen unter euch, die Christine „German Tourist‟ Thürmer nicht kennen: Sie ist 2004 ihren ersten „Thruhike‟ gewandert: den Pacific Crest Trail (PCT), von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze, 4277 km in fünf Monaten. Vorher (und für kurze Zeit auch wieder danach) war sie eine äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau. 2007 (mit Anfang 40) stieg sie dann komplett aus einem „normalen‟ Leben mit Job und Wohnung aus – und wandert, radelt und paddelt seitdem durch die ganze Welt.
In ihrem Buch beschreibt sie ihre Erlebnisse auf den drei Weitwanderwegen, die die USA von Nord nach Süd (oder umgekehrt) durchqueren. Sie ist damit eine derjenigen thruhiker, die sich mit der Triple Crown schmücken dürfen, d.h. sie hat alle drei Trails komplett geschafft. Grizzly-Bären oder Klapperschlangen sind auf diesen Hikes noch die kleinsten Gefahren; Wasserknappheit, Unterkühlung und gefährliche Abstiege über Schneefelder oder Durchquerungen von Flüssen sind weitaus (lebens-)gefährlicher. Aber: The trail provides – so heißt das „Mantra‟ der thruhiker – und so hat German Tourist jede Menge Anekdoten von hilfreichen trail angels (machen es sich zur Aufgabe, die thruhiker zu unterstützen, mal als Chauffeure zum Supermarkt und/oder zur Post, mal mit Essen, mal mit einer Unterkunft inkl. Duschen und richtigen Betten) und anderen „Engeln‟, die ihr auf ihren Wanderungen begegnet sind.
Was sie dabei über sich erfährt – und das wird ihr erst so richtig beim zweiten Trail, dem Continental Divide Trail (CDT) klar -, sind zwei Dinge: Sie wandert am besten allein und sie will nicht in ihr altes Leben zurück, sondern weiterwandern. Und so kommt es ihr recht, dass ihr, noch während sie unterwegs ist, gekündigt wird…
Ich habe das Buch in den letzten Tagen förmlich verschlungen, sozusagen als Einstimmung auf meinen USA-Urlaub. An drei Stellen, an denen der PCT mal an eine Straße stößt, komme ich auf meiner Reise vorbei: Cascade Locks (Oregon, am Columbia River), Snoqualmie Pass (Washington, auf dem Weg zwischen Yakima und Seattle) und White Pass (WA, vom Mt. Rainier kommend, wenn ich gen Westküste fahre) – vielleicht werde ich mal anhalten und schauen, ob ein paar thruhiker unterwegs sind. Von der Zeit her würde es ungefähr passen – für Leute, die von Süden nach Norden wandern. Reizen würde es mich schon, mal ein paar „echte Exemplare‟ zu sehen – und evtl. ein paar Worte mit ihnen zu wechseln. Der PCT ist übrigens auch der Trail, auf dem der Film Wild (basierend auf dem Buch einer Amerikanerin) spielt. Allerdings habe ich den nicht gesehen, die Landschaft wird auch laut Wikipedia-Eintrag weniger thematisiert. Dafür sieht man einen Teil des Appalachian Trails (AT) in dem Film A Walk in the Woods (Picknick mit Bären), den ich in der Sneak Preview gesehen habe und der mich schon fasziniert hat, auch wenn der Film an sich kein Meisterwerk ist.
Dieser Film – und nun das Buch von Christine Thürmer, das ein Geschenk einer Freundin war, haben bei mir eine gewisse Neugier und auch ein Stück weit Sehnsucht ausgelöst. Nicht unbedingt, mich nun auch auf den PCT oder AT aufzumachen. Ich bin da Realist: Weder mein Körper (leider immer noch so gut wie völlig untrainiert), noch mein Geist (ich habe z. B. Höhenangst) würden das vermutlich aushalten. (Wobei sich Thürmer ja hauptsächlich durch Schokolade ernährt hat… 😉 – das würde eigentlich dafür sprechen: Berge von Schokolade essen und trotzdem abnehmen, weil man täglich 33 km läuft. Klingt doch toll! 😉 )
Aber – und vielleicht kennt das ja der ein oder die andere von euch – manchmal male ich mir schon aus, wie es wäre, wenn ich aus meinem jetzigen Leben total ausbrechen würde, zumindest für ein Jahr vielleicht. Schließlich habe ich keine Kinder und könnte es mir somit leisten (nicht in finanzieller Hinsicht gemeint – leider – , im Gegensatz zu Christine Thürmer), ein halbes Jahr durch, sagen wir, Neuseeland zu fahren und aus meinen dabei entstehenden Blogeinträgen ein Buch zu schreiben oder einen Bildband mit meinen Naturaufnahmen herauszugeben… Oder – was um ein Vielfaches teurer wäre, obwohl es so nah wäre – ein Jahr in London leben, mir ALLE Theaterstücke ansehen, die mich interessieren, und dabei beste Freundin von Nicola Walker werden (und angesehene Theaterkritikerin). Oder als Statist in Vancouver bei allen möglichen Filmen und Serien mitspielen – und an drehfreien Tagen in den Provincial Parks und National Parks von British Columbia wandern und fotografieren…
Da gäbe es schon – mehr oder weniger verwirklichbare – Träume für ein (temporäres) Aussteigen. Doch so radikal wie dies Thürmer getan hat, ist das wirklich etwas, das bewundernswert ist? Ist das echte Selbstverwirklichung oder reiner Egoismus? Mit einem Partner lässt sich so ein Lebensstil kaum vereinbaren, mit Kindern schon gar nicht. Alte Freunde, die Familie sieht man alle paar Monate oder Jahre mal wieder, „Heimat‟ – was wäre das dann? So sehr ich solche Aussteiger um ihren Mut bewundere, so sehr ich z. B. diese Glücksmomente beim Anblick von Natur, die Thürmer auch beschreibt, kenne und auch immer wieder nach solchen Momenten suche, ich bin dann doch auch jemand, der gerne auch wieder zu Hause ist. So sehr ich manches Mal über den Alltag schimpfe – er gibt mir doch auch Halt. Noch dazu habe ich als Lehrerin sowieso keinen Job, in dem jeder Tag gleich aussieht.
Gleichwohl träume ich tatsächlich davon, mal ein Sabbatjahr einzulegen, um nur Dinge zu tun, die ich will. Ein Jahr nochmal „frei‟ sein irgendwie. Geist und Körper pflegen, physische und psychische Blockaden lösen. Reisen. Fotografieren. Schreiben. Und vielleicht hat mich da Thürmers Buch und ihre Geschichte ein bisschen bestärkt, diesem Traum nicht aufzugeben.
Wie geht es euch damit? Einige meiner Leser/innen sind ja noch recht jung – da denkt man vielleicht weniger ans „Aussteigen‟ als ans „Aufsteigen‟ – aber diejenigen unter euch, die schon eine ganze Weile im Berufsleben stehen: Habt ihr hin und wieder das Gefühl, mal eurem bisherigen (Berufs-)Leben entfliehen zu wollen? Oder vielleicht hat ja jemand von euch sogar schon Ähnliches durchgezogen? Ich würde mich über Gedanken und Geschichten von eurer Seite freuen! 🙂
Wieder einmal ein sehr interessanter Beitrag, in dem ich mich auch selbst wiederfinden kann. Ich bin zwar erst 18 und habe dieses Jahr erst die Schule beendet – aber trotzdem kenne ich diesen Wunsch nach dem „Aussteigen“, einfach alles hinter sich lassen und „frei“ sein… auch mit ein Grund, warum mich der Film „Into The Wild“ so fasziniert hat. Dennoch, mir geht es da auch so wie dir, wenn du schreibst:
„So sehr ich solche Aussteiger um ihren Mut bewundere, so sehr ich z. B. diese Glücksmomente beim Anblick von Natur, die Thürmer auch beschreibt, kenne und auch immer wieder nach solchen Momenten suche, ich bin dann doch auch jemand, der gerne auch wieder zu Hause ist. So sehr ich manches Mal über den Alltag schimpfe – er gibt mir doch auch Halt.“
Interessante Gedanken. Kommen mir auch ab und zu. Vermutlich würde mir aber schon einmal eine zweiwöchige einsame Wanderung reichen. Bin dann, wie eben du auch, doch viel zu gerne zu Hause. Wenn ich mich manchmal so mitten im Hamsterrad befinde, hätte ich aber auch Lust einfach einmal auszusteigen. Ist natürlich nicht realistisch, doch da ich nie eine wirklich Auszeit hatte (nach dem Abi gleich Zivildienst, dann Studium, dann Job; selbst in den Semesterferien habe ich immer gearbeitet), ist es schon verlockend das nachzuholen. Kann deine Gedanken also gut verstehen.
Bei mir ist es so, dass ich um auszusteigen überhaupt erst einmal endgültig einsteigen müsste. Zwar ist bei mir seit Jahren schon ein geregelter Trott angesagt – sehr lang studiert und die letzten 5 Jahre davon 2 Jobs nebenbei gehabt, was bedeutete IMMER (mindestens) 9 to 5 oder mehr eingespannt zu sein, dann kam die Promotionsphase, die sich 3 Jahre komplett wie „normales“ Arbeiten anfühlte (mit der Freiheit mal im Netz zu surfen wenn die Messungen liefen) und bald kommt dann endlich mal der „Berufseinstieg“. Wie es dann sein wird – keine Ahnung! Aber deine Gedanken kann ich dennoch nachvollziehen und egoistisch finde ich solche Entscheidungen nicht, bzw. sind sie es, aber ich hab mich schon früh davon gelöst, derartigen Egoismus zu verurteilen. Jeder soll und MUSS leben, wie er es für richtig hält. Wenn man das Glück hat jemanden zu finden, dessen Uhren gleich ticken ist das super, doch im Ernstfall ist es immer der eigene Rhythmus auf den man hören muss. Macht sonst krank, kaputt, oder depressiv.
„Ich bin da Realist: Weder mein Körper (leider immer noch so gut wie völlig untrainiert), noch mein Geist (ich habe z. B. Höhenangst) würden das vermutlich aushalten. “
Du musst dagegen halt mal was dagegen unternehmen. 😉
/Banalitätsmodus off/
Oha … Du hast mich an einen meiner ganz frühen Blog-Ergüsse erinnert, die ich in meinem damaligen „Hauptblog“ verfasst habe. In dem habe ich mir Leute wie dich zur Brust genommen. Tenor des Beitrags war (ich verlinke ihn mal nicht, er ist ziemlich lame und aufgeblasen, außerdem habe ich da noch in „wir“-Form gebloggt): Hört auf, euch eskapistisch in Sehnsuchts-Phantasien zu ergehen oder gar auszusteigen, tut lieber was dafür, dass euer Umfeld so ist, dass ihr diesen Wunsch nicht mehr hegt.
Das Tückische an dieser Vorstellung (ich denke an eine Ex-Kollegin, die immer von einer Farm in Afrika geträumt hat) ist ja, dass es dort perfekt laufen soll. Das ist das Resultat harter Arbeit. Und der Anspruch, dass dieses Traumland perfekt sein muss, ist völlig überzogen. Der Perfektionismus, den wir in unsere Aussteigervision projizieren, ist doch genau das, was uns in unserem Alltag meistens ankotzt. Und so ist, genau betrachtet, die Aussteigerphantasie dem stressigen Alltag sehr viel näher als gedacht.
Davon ab: So ein kleines Wolkenkuckucksheim als Rückzugsort hat noch niemandem geschadet. Ich habe dafür einen Blog. 😉
hurzfilm, du könntest die Singende Lehrerin ja begleitetn und beschützen… 😉
Wenn ich das in dieser Formulierung vorschlage, brauche ich vermutlich selbst Schutz… 😉
Ich stimme Dir zu, dass es egoistisch ist. Ich habe viel auf Christines Blog gelesen und hatte in einem Forum mal Kontakt mit ihr. Aus meiner Sicht ist es eine sehr radikale Entscheidung, die sie da getroffen hat, aber das ist ja nicht unumkehrbar. Ich stelle mir vor, dass vom Leben davor nur sehr wenig bleibt. Aber es kann sicher auch ein Leben danach geben, wenn man das irgendwann will.
Ein Kurzzeitaussteigen von wenigen Monaten, das ich gemacht habe, hat nicht so viele Folgen – nur gute: vor allem etwas mehr Gelassenheit und meinen Blog – aber in der Zeit, in der man es tut, ist es sehr egoistisch. Nicht jeder Partner macht das mit. Ich bin knapp an der Entscheidung Wunschjob oder Auszeit vorbeigeschrammt, die Entscheidung Partner oder Auszeit wäre grausam. Ich glaube, wenn man damit konfrontiert würde, wäre beides versaut.